Eine asiatisch-tibetische Familiengeschichte

Die Familiengeschichte ist sehr kompliziert und tragisch, vor allem für Sonam. Mutter und Vater sind Bhutanesen. Die Mutter wurde 7 Jahre vor Sonams Geburt, ca. 1979, in einem Kloster in Bhutan vergewaltigt und bekam einen Sohn. Dieser lebt heute in einem Kloster in Sikkim. Sonams Mutter lernte ihren Vater bei einer Meditation in einem buddhistischen  Kloster in Bhutan kennen und sie verliebten sich. Sonam kam 1986 zur Welt. Der Vater kam aus einer wohlhabenden Familie, war erst 17 Jahre alt, die Mutter ca. 33, lebte mit ihrer Mutter und ihrem Sohn in armen Verhältnissen. Sie blieb nicht bei Sonams Vater sondern ging auf Wunsch der Mutter auf eine Pilgerfahrt nach Sikkim mit Sonam. Sohn Gelek Tenzin war inzwischen in einem Kloster untergebracht. Bis heute ist er Mönch. In Sikkim lernte die Mutter in einem Kloster einen Mönch kennen, sie heirateten.

Für beide war es die zweite Ehe. Der Mönche war Schüler des Rinpoches der kleinen Gompa in Sikkim. Pema wurde 1988 geboren, Karma 1989, Tashi 1987, dann Yunden und Janyan. Yundan starb an TB und Janyan ist heute ebenfalls Mönch, nachdem er auch Jahre in der Dorji Schule in Nepal verbrachte, doch als sein Sponsor ihn nicht mehr unterstützte, kam auch er ins Kloster. Der Vater der Schwestern starb 1993 und die Familie war mittellos. Ein Sohn aus der ersten Ehe des Vaters war mit Mr. Dorji befreundet, der, auch mit unserer Hilfe, ab 1982 eine Schule in Kathmandu-Boudnaht führte. Er nahm die Kinder auf. Die Großmutter, Mutter und die jüngste der Schwestern Yundan konnten im Kloster in Sikkim bleiben. Der Rinpoche ermöglichte ihnen eine Bleibe, da der Ehemann sein Schüler war. Die Mutter erledigte alle anfallenden Aarbeiten im Kloster und kochte für die Mönche. 1996/1997 starb die Großmutter und die Mutter blieb allein mit Yundan in sehr armen und schwierigen Verhältnissen.

Alle haben keinen Personalausweis und Sonam hat nicht mal den Tibetischen Flüchtlingspass, der allen Tibetern zusteht. Die Mutter hielt es nicht für nötig, für sie ein Geburtszeugnis zu besorgen – „wozu? – ich hatte auch keines“. Die Schwestern wurde von einer entfernten Tante des  2.Vaters, einer Tibetischen Ärztin in Dehra Dun, 2004 nach Indien geholt. Dies war für alle eine überraschende Entscheidung, doch aus heutiger Sicht, die beste für die Schwestern. Die Tante schrieb sie in eine gute tibetische Schule in Moussourie, Nordindien ein. Dort erhielten alle ihre Ausbildung bis zur 10. Klasse. Dann ging Pema nach Delhi, um dort zu studieren, Karma und Tashi nach Darjeeling. Die Kosten für die Ausbildung  wurden von der Tibetischen Exilregierung übernommen. Das weitere Studium wird nur noch bezahlt, wenn die Noten gut sind, was bei den drei Schwestern der Fall ist.

 Die Tante in Dehra Dun ist wohlhabend, ihr Mann  bezieht eine gute Rente als Armeeoffizier, sie verdient noch gut, auch durch Tibetisch-medizinische Konsultationen in Ausland. Doch sie unterstützt die Mädchen nicht – vor allem Sonam mag sie gar nicht. Sie hilft ihr auch nicht bei der Besorgung eines tibetischen Flüchtlingpasses, was möglich wäre. Sie mochte die Mutter nicht und der Onkel, der die Schwestern nach Nepal brachte, gehört der Shugden Sekte an, die Dalai Lama untersagte und zu der sich auch Dorji zugehörig fühlte. Vom Onkel darf nicht mehr gesprochen werden; er sei wohl in China. Shugden ist eine Gegenbewegung, die aus China kommt, viel in Großbritannien praktiziert wird und materiell ausgerichtet ist.

Die Schwestern erhalten ihr Studium von der Tibetischen Exilregierung in Dharamsala bezahlt. Dies gilt für alle Tibeter bis zur 10. Klasse, die weitere Ausbildung wird danach nur noch bezahlt, wenn gute Noten erbracht werden. Pema, Karma und Tashi erfüllten die Bedingungen. Wir unterstützen sie mit Taschengeld und dem täglichen Bedarf. Mir schien, dass es Pema und Karma recht gut geht, Tashi und Sonam jedoch finanzielle Schwierigkeiten haben, sie jedoch sehr bescheiden sind. Die Schwestern sind sehr unterschiedlich und für die drei in Delhi scheint es mir gut zu sein, dass sie alle in verschiedenen Unis studieren. Sie kommen jedoch sehr gut miteinander aus.
 
Sonam musste ihr Studium nach der 12. Klasse  abbrechen, da die Mutter krank wurde, Diagnose TB, nicht mehr heilbar. Sie, die in der Schule die intelligenteste der Schwestern war. Sie ist heute 28 Jahre alt. Sonam pflegte sie zwei Jahre in einem Krankenhaus in Sikkim und danach ihre jüngste Schwester noch ein Jahr. Beide starben. Sonam konnte ihr Studium nicht wieder aufnehmen, was wohl auch daran lag, dass sie nach der langen Pflege und dem Sterben der Angehörigen nicht mehr die Kraft hatte, sich durchzusetzen. Heute ist sie im gleichen Kloster, dem Phuntsok Choeling, tätig wie ihre Mutter. Der Rinpoche H.E.the Lt.Cheme Rigzin Rinpoche, einem besonderen Heiligen, kam aus Tibet und wurde von S.H. 16. Karmpa eingesetzt. Das Kloster liegt sehr abgelegen. Sonam fühlt sich verpflichtet, weiß aber für sich auch keinen anderen Ausweg. Sie unterrichtet die Mönche, erledigt alle schriftlichen und finanziellen Dinge und ist die einzige, die Englisch spricht. Der jetzige Rinpoche, Tulku Sopa, ist der Sohn des vorherigen und hat nicht die heilenden Kräfte wie sein Vater, daher kommen nicht mehr so viele Menschen ins Kloster. Sonam hat freie Kost und Logis, doch sie verdient kein Geld.

Sonam hat vor drei Jahren ihren Vater in Bhutan besucht. Er spricht Nepali und so konnten sie sich unterhalten. Er weiß, dass sie seine Tochter ist, sagte es ihr auch, doch seiner Familie stellte er sie als eine Bekannte vor. Dies war bitter für Sonam.

Meine Bemühungen, für sie eine andere Lösung zu finden, schlugen fehl. Sie sieht keine Chance für sich an einem anderen Ort und fühlt sich dort wohl, hat zwei Freundinnen, ist ein wenig in den Rinpoche verliebt (ca. 30 Jahre älter als sie!) und möchte nicht in der hektischen Welt Indiens leben. Ich weiß keinen anderen Weg für sie und weiß nicht, wie sie im Alter in diesem Kloster leben kann und wird. Ich habe sehr offen mit ihr darüber gesprochen. Doch einen engen Kontakt hatte ich nicht. Sie ist sehr verschlossen und irgendwie hat sie auch nichts mehr zu erzählen, kein Interesse. Sie lebt sehr in ihrer klösterlichen Welt und liest auch nur religiöse Bücher.

Pema ist 25 Jahre und studiert an der Jawaharlal Nehru Universität und wohnt auch dort im Hostel. Sie wird im April 2014 mit dem Master in Englischer Literatur abschließen und sich dann für ein weiteres Studium in den USA  bewerben – PHD / Philologie. Hierzu benötigt sie allerdings einen Abschluss mit über 90% und muss einen sehr schweren Test  - IELTS (International English Language Test) oder TOEFL (Test of English Foreign English)  bestehen. Falls ihr das nicht möglich ist, wird sie Lehrerin für Englische Literatur. Pema arbeitet einige Stunden bei einer Sprachenschule, ist dort sehr erfolgreich und wird gefördert. Pema ist die lebendigste der Schwestern, sie bestimmt auch alles und hat viele Freunde. Sie kennt sich aus, ist schnell, spricht auch schnell und ist etwas chaotisch. Ich habe eine sehr hilfreiche und fröhliche Pema kennengelernt und eine gute Gesprächspartnerin.       

Karma ist 24 Jahre und studiert am Lakshmibai College – Bachelor in Commerce und wird im Juli 2014 ihren Abschluss machen. Anschliessend will sie noch 2 weitere Jahre für den Master studieren. Falls dies der Noten wegen nicht möglich ist, studiert sie weiter für eine Bankkarriere. Für das Masterstudium benötigt sie über 60%, zurzeit liegt sie bei 57. Karma ist ein sehr nettes Mädchen, ausgeglichen, fröhlich. Sie hat einen tibetischen Freund, dessen Mutter in der Schweiz lebt. Ich habe sie sehr ins Herz geschlossen – sie kannte ich fast nicht, da sie in der Dorji Schule von Franzosen unterstützt wurde und sie nicht in unserer Gruppe war.

Tashi ist 22 Jahre und studiert an der University of Delhi BSC – Bachelor in Science, Ernährungswissenschaften und Communication (auch Mode, Stoffe, Management, Sport) im 2. Jahr. 2014 beendet sie das 3. Jahr. Danach noch zwei Jahre für den Master. Sie erhofft sich, da sie gute Noten hat, ein Austauschstudium mit dem Lady Irwin College / Michigan University in den USA, die mit der Uni in Delhi ein Austauschprogramm durchführen. Tashi ist fröhlich-ernsthaft, auch geprägt durch ihre lange Krankheit TB.  Sie musste vor zwei Jahren ein Jahr lang aussetzen und sie  wurde mit Hilfe von teuren Medikamenten, die durch die Tibetische Exilregierung bezahlt wurden, geheilt.

Die vier verwaisten Mädchen liegen mir sehr am Herzen und ich danke den Sponsorinnen und Sponsoren, dass sie sie weiterhin unterstützen, obwohl ich für sie keine Spendenbescheinigungen ausstellen kann, da sie in Indien leben. Ich finde es großartig, wie jede ihren eigenen Weg sucht und sie ihre Ziele verfolgen.

Gisela Stäbler 21.05.2013